woman hand raised, holding gold medal against sky. award and victory concept
RICHTIG GUT LEBEN

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After Olympia

Über wahrhafte Siege

Die Geschichte von Nancy

Nancy war in ihrer Sportart mehrfache US-Meisterin und vor zwei Jahren Weltmeisterin. Ihr großes Ziel: Olympia-Gold. Diesem Ziel hatte sie ihr ganzes Leben untergeordnet. Die Vorbereitung lief optimal, sie konnte auf das allerbeste Material zurückgreifen, hatte ein motivierendes Umfeld und wurde bei den Olympischen Spielen in Tokyo – zwölfte. Alles war schiefgelaufen. Wie eine entgleiste Lokomotive war sie von einem Hindernis zum nächsten, von einem Fehltritt in den nächsten gestolpert.

Nancys Vater war so etwas wie der Boss ihrer Fangemeinde. „Alles gut, alles gut! Wir haben dich lieb.“ Solche Messages schickte er ihr immer wieder. Seine Liebe zu Nancy war um so vieles größer als sein Ehrgeiz, mit ihr zu siegen. Und diese Haltung übertrug er auch auf die Fans, sodass sich unter ihnen nie ein Gefühl der Enttäuschung breit machen konnte. Sie standen einfach nur mitfühlend und stärkend hinter ihr.


“ Seine Liebe war größer als sein Ehrgeiz. Und diese Haltung übertrug sich.“

Trotz alledem war Nancy untröstlich. „Erinnerst du dich an die Weltmeisterschaft? Damals haben wir alle dem lieben Gott gedankt.“, sprach sie ihr Vater an. „Warum haben wir ihm gedankt? Weil wir deinen WM-Titel als Geschenk erlebt haben. Uns allen war bewusst, dass es nicht in unserer Hand liegt, was sich als Ergebnis unserer Bemühungen ergibt. Es liegt an uns, in aller Redlichkeit den Weg zu einem Ziel zu gehen. Ob wir dort dann auch ankommen, müssen wir dem Höheren überlassen.“

Nancys Miene hellte sich ein wenig auf. „Ich bin meinen Weg zur Olympiade tatsächlich mit aller Redlichkeit gegangen. Besser wär es mir nicht möglich gewesen.“, meinte sie.

„Das meine ich auch“, nickte ihr Vater bestätigend und fügte hinzu: „Zur Natur unseres Menschseins gehört unsere Verantwortung, dass wir unseren Weg gehen, und wie wir ihn gehen, nicht aber die Ergebnisverantwortung. Ich war es ja, der dir nahegelegt hat, dir den Olympiasieg als Ziel zu setzen, weil das Ziel den Weg bestimmt. Wer bei der Olympiade gewinnen will, muss wirklich alles geben. Genau diesen Weg hast du beschritten, hast alles gegeben. Und das war großartig. Deshalb bist du in meinen Augen schon Siegerin gewesen, bevor du überhaupt in den Wettkampf eingestiegen bist.“

„Und du bist nicht einmal ein bisschen enttäuscht?“, fragte Nancy. „Nicht ein bisschen,“ antwortete ihr Vater. „So sehr ich dir die Medaille gegönnt hätte, habe ich doch nie die Erwartung gehabt, dass du dein Ziel erreichst. Nicht etwa, dass es mir an Vertrauen in deine Fähigkeit gemangelt hätte. Aber mir war klar, ein bestimmtes Ergebnis zu erwarten, ist ein Fehler. Und zwar grundsätzlich. Die Zielerreichung liegt nicht in unseren Händen, niemals. Wir können sie wahrscheinlich machen, indem wir unser Allerbestes geben, wir können sie uns zutrauen, aber letztlich können wir sie weder von uns selbst noch von anderen erwarten. Die Erwartung erzeugt Stress, weil sie dem Prinzip widerspricht, dass wir nur für den Weg, nicht aber für das Ergebnis verantwortlich sind. Wir sind verantwortlich für das, was wir geben, nicht dafür, was wir erreichen.“


“ Verantwortlich sind wir für das, was wir geben, nicht dafür, was wir erreichen.“

„Trotzdem stellt sich mir die Frage, warum sich der Weg, den ich gegangen bin, nicht, wie bei vielen anderen, im Ergebnis widerspiegelt,“ forschte Nancy weiter. „Du kennst doch meine Antwort,“ erwiderte ihr Vater. „Du kennst mein tiefes Vertrauen in die große Weisheit des Lebens. Das Leben hat im Moment einen größeren Gewinn als eine Olympiamedaille für dich vorgesehen, etwas, von dem du nicht nur jetzt sondern für dein ganzes Leben, wohl bis zu deinem letzten Atemzug profitierst. Gemeinsam werden wir herausfinden, worum es sich dabei dreht.“

„Eine wesentliche Lektion habe ich jetzt schon gelernt,“ gab Nancy zurück. „Wenn ich meine Augen schließe, ist mir, als wären da Gottes Hände. Und in diese Hände kann ich immer, bei Weitem nicht nur im Sport, die Verantwortung für das Ergebnis meines Weges und meiner Bemühungen legen. Wie erleichternd ist das denn! Das ermöglicht mir ein völlig stressfreies Leben. Der Stress liegt ja nicht in den Mühen des Weges sondern in der Fixierung auf die Zielerreichung. Und wenn ich mehr auf den Weg achte, anstatt mich vom Ziel bannen zu lassen, dann wird der Weg auch unbeschwerter und lustvoller und lebendiger und erfüllender. Ich glaube, wenn ich Olympia-Gold gewonnen hätte, wäre ich nicht dankbarer, als ich jetzt gerade für diese Erkenntnis bin.“

Nancys Vater nahm sie in die Arme und drückte sie liebevoll. „Ich bin sehr, sehr stolz auf dich,“ flüsterte er ihr ins Ohr. „Und ich hab dich ganz fest lieb.“

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Über  den Autor

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Wolfgang Stabentheiner zählt zu Europas Coachingpionieren der ersten Stunde. 1990 gründete er FUTURE und entwickelte das erste ICF-zertifizierte Coachingprogramm im deutschen Sprachraum. Er wirkt international als Coach, Autor, Seminarleiter und Vortragender.
Mehrfach rankte man ihn unter die Top 100 der inspirierendsten Menschen im deutschen Sprachgebiet.

Im Laufe der letzten 30 Jahre haben sich ihm an die 2000 Führungskräfte in Seminaren, Coachings und Beratungen anvertraut. Er hat hunderte von Coaches aus vielen Ländern Europas ausgebildet und ungezählte Unternehmen in wichtigen transformatorischen Prozessen begleitet. Seit 2019 widmet er sich ganz dem Thema
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